„Das Echo der eigenen Schritte“ – Identität(en), Erwartungen und Perspektiven von Wissenschaftler*innen im Exil (1930-1960) – Chris Buchholz

Das hier vorgestellte Projekt über Wissenschaftler*innen, die im Rahmen der Verfolgung „jüdischer“ oder politisch missliebiger Personen während der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft (1933-1945) in Deutschland ins Exil flohen, entstand im Rahmen der Summer School „Migration, Inklusion und Marginalisierung. Transnationale Geschichte(n) der Mobilität“.
Neben einer Übersicht über die Theorie der Exilforschung und den historischen Kontext liegt der Fokus in einer Auswahl von Quellen und Biografien von Exilant*innen, die im Hinblick auf ihre Identitäts- und Perspektivverschiebungen, Erwartungen an die USA (und GB) und an das (West-)Deutschland der Nachkriegszeit analysiert werden.
Das Herzstück bildet der Versuch einer Synthese der Aussagen in den Selbstzeugnissen und Interviews, um Muster, Gemeinsamkeiten und Unterschiede festzustellen und die Frage zu beantworten: „Welchen Einfluss hatte das Exil auf die Identität der exilierten Wissenschaftler*innen?“

Perspektive(n): Versuch einer Synthese

Wenn man sich dieses Projekt das erste Mal anschaut, wird man sich vielleicht fragen: Was soll der Titel bedeuten, der doch recht kryptisch und vielleicht etwas philosophisch erscheint? Zunächst einmal beschreibt Theodor W. Adorno mit diesen Worten, wie er nach seiner Rückkehr nach Europa durch die Straßen von Paris lief und erstmals wieder das Echo der eigenen Schritte hörte. Dieses Echo assoziierte er direkt mit dem Ort seiner Kindheit, wo er aufgewachsen war und den er als seine Heimat identifizierte. Damit fand er eine Analogie zwischen seinem Kindheitsort und der Stadt Paris, fühlte sich in Paris ergo heimischer, als er es in den USA jemals getan hätte und fand seinen Eindruck aus der Distanz bestätigt, dass der Kontinent Europa als Ganzes eine Kultur habe, die lediglich durch nationalstaatliche Grenzen fragmentiert werde. Er war in den USA, durch die Betrachtung aus der Distanz, in seinen Augen zu einem Europäer geworden. Das „Echo der eigenen Schritte“ hat jedoch auch eine weitere, auf einer höheren Ebene angesiedelte Bedeutung für dieses Projekt: In den Interviews berichten die Exilant*innen von ihren Erfahrungen und Emotionen besonders eindrücklich durch Anekdoten. Anekdoten, die in verschiedenen Orten auf dem Globus spielen, die sie sich in Erinnerung rufen und damit gleich einem Echo der Schritte, die sie auf diesen Weg geführt haben, widerhallen. Der Titel weist damit auf den oft steinigen Weg hin, den die Exilant*innen gegangen sind, und über den sie in den Quellen berichteten. Zur Klärung der emotionshistorischen Leitfrage, welche Einflüsse und Auswirkungen das Exil, wissenschaftlich wie persönlich, auf die Identität, Haltungen und Meinungen der Exilant*innen hatten, erschienen die untersuchten Selbstzeugnisse (v.a. Interviews) daher als adäquateste Quellenform. Die in der folgenden Synthese angeführten Zitate sind unter den Kurzbiografien mit exakten Quellenangaben aufgeführt.

Tatsächlich äußerten sich die bereits vorgestellten Personen recht offen zur untersuchten Thematik, sodass sich viele Gemeinsamkeiten und einige Unterschiede herauskristallisierten. Besonders deutlich ist die Ambivalenz der Haltungen bezüglich Deutschland und den USA sowie die Hybridität der Identität geworden, die besonders bei Erika Mann und Theodor W. Adorno explizit angesprochen werden: Abwendung von Deutschland und Hinwendung zu Europa, eine Abkehr von der deutschen Gesellschaft, aber eine bleibende Affinität zur deutschen Sprache sowie Dankbarkeit gegenüber den Aufnahmeländern (v.a. USA und GB), aber Heimat- und Sehnsuchtsgefühle nach Deutschland.
Während sich also Adorno vor allem auf abstrakterer Ebene, die aus seinen Analysen der europäischen Verhältnisse aus der Distanz ergab, und aus intellektueller Warte als Europäer identifizierte, scheint diese Identifikation für Erika Mann sogar eine noch tiefere persönliche Bedeutung zu haben. Durch die Auftritte ihrer Kabarettgruppe „Die Pfeffermühle“ im europäischen Ausland in der Anfangszeit der NS-Herrschaft, habe sie die Einheit Europas „praktisch erfahren“, was dazu führte, dass sie den Kontinent als eine Entität empfand. In der Konsequenz könne sie, so Mann, „in den meisten europäischen Ländern heimisch werden“, sogar wieder in Deutschland. Spannend sind auch ihre Aussagen, dass sie nicht sagen könne, sie „sei nach Deutschland heimgekehrt“, sondern dass sie es als Heimkehr empfunden habe, als sie „nach Europa zurückkam“. In die Reihe derjenigen, denen das Exil eine breitere Perspektive vermittelt hat, reiht sich auch Adolph Lowe ein. In England und den USA sei ihm erst klar geworden, wie „provinziell“ sein „Gesichtskreis in den ersten vierzig Jahren“ seines Lebens gewesen sei. Er betrachte es als „großen Gewinn“, dass er über diese nationale Identität hinausgewachsen sei.
Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang die Aussage von Eva Reichmann, die nach England ins Exil ging. Auf die Frage nach ihrer Identität antwortet sie zunächst, dass sie „eine Deutsche nicht mehr [sei, CAB], eine Engländerin […] nie sein [werde, CAB]“. Sie führt dies anschließend weiter aus und rekurriert auf ihre jüdische Existenz sowie ihre geteilte Loyalität, wenn sie sagt: „Ich bin eine britische Staatsangehörige jüdischer Tradition […] und bemühe mich, meine nie versagende und nie dahingegangene deutsche Loyalität noch zu bewahren, neben meiner britischen Loyalität […].“
Einen ähnlichen Ansatz abseits der nationalen Identitätsdefinition wählt Marie Jahoda, die aus dem annektierten Österreich in die USA geflohen ist. Sie sei „fundamental ohne eine nationale Identität“, sondern durch Hitler sei das Judentum „eine wirkliche Identifikation geworden.“ Dieser Rückbezug auf die jüdische Herkunft findet sich an anderer Stelle auch bei Adorno.
Abschließend sollte noch kurz die Einschätzung von Kurt H. Wolff betrachtet werden, der einen differierenden Fokus legt und betont, wie er nicht definiert werden möchte: „Aber ich will nicht als Emigrant, Flüchtling oder Einwanderer definiert werden; das würde bedeuten, daß Hitler mich wirklich besiegt hat, daß aus mir Hitlers Ebenbild oder Gegenbild, sein Sklave, ein bloßes Ding geworden wäre.“ Stattdessen habe nicht das Exil an sich, sondern seine gesamten Erlebnisse dazu beigetragen, ihn zu dem Menschen zu machen, der er geworden sei „und noch immer werde.“ Er wehrt sich damit explizit gegen die Fremdzuschreibung als ins Exil getriebene Person, sondern möchte seine Identität selbst in die Hand nehmen und versteht sie als einen stetig andauernden Prozess.

Die Haltung gegenüber der Bundesrepublik Deutschland, die als eine der beiden Nachfolgestaaten des so genannten „Dritten Reichs“ das Erbe des Nationalsozialismus in sich trug, war ambivalent und zwischen den Exilant*innen uneinheitlich. Es soll hier simultan mit der Perspektive auf die USA (bzw. GB bei Reichmann) analysiert werden, da die Personen die beiden Länder häufig als Vergleichsfolie benutzen, um ihre gegensätzlichen Ansichten zu vermitteln.
Erika Mann und Theodor W. Adorno stimmen darin überein, dass sie den USA Dankbarkeit entgegenbringen, aber sie sich dort zugleich immer als Fremde wahrnahmen und sich mit der Kultur, auch der wissenschaftlichen Kultur bei Adorno, nur notgedrungen und auf recht basaler Ebene arrangierten. Während sich Adorno beklagte, er hätte durch die englische Sprache seine Identifikation aufgeben müssen, da er durch seine Gedanken, Sprache und Ohren existiert habe, prangert Mann ein fehlendes Heimatgefühl an: Sie sei zwar „zeitweise sehr gerne“ in den USA gewesen, sie sei dort aber nie „heimisch geworden“. Adorno wirft den USA sogar vor, dass das Leben dort nicht lebe, im Gegensatz zu Europa. Damit bezieht er sich auf die von ihm empfundene kulturelle Verrohung der USA, die seiner Ansicht nach ihre Ursache in der großen Eile und der peniblen Planung des Aufbaus des Landes und in der „Verdinglichung“ habe. Die Landschaft, so postuliert er, sei „unbeseelt“, während Europa, das über Jahrhunderte organisch gewachsen sei, überall „wirke“. Dieser Feststellung pflichtet Erika Mann bei und behauptet, dass Amerika „keine Dörfer“ habe, obwohl für sie die Existenz von Dörfern zu einem glücklichen Leben dazugehöre. Beide führen ihre kritische Haltung gegenüber ihrem Gastland noch weiter aus, sprechen ihm einen „Stil“ für Erfahrungen (Adorno) ab und eine Fortschrittshörigkeit, die das eigentliche Leben vergesse. Diesen Kritikpunkten stellen sie Europa gegenüber, das sich zwar „geistig, kulturell, soziologisch, in jeder Weise verändert“ (Mann) zeige, aber ihnen Halt gebe. Dennoch, die USA haben ihnen Schutz und Arbeit geboten, und die Kontinuität der Arbeit, so Mann, sei das, „was den Menschen die Kontinuität der Existenz sichert.“ Sie fühle sich, teilt sie abschließend mit, „unendlich bereichert durch die Emigration“ und geht sogar so weit, Hitler für diese Erfahrungen zu danken – eine schwierige Aussage, die nur im Kontext richtig zu verstehen sein dürfte. Einen ähnlichen Konflikt zwischen Dankbarkeit und Heimweh beschreibt Eva Reichmann. Sie danke England dafür, dass es ihr eine „Heimat gegeben hat“, als Deutschland ihr diese „zu nehmen begann.“ Andererseits sei sie „der deutschen Kultur und der deutschen Sprache loyal“, da man eine Muttersprache und eine Heimat nur einmal haben könne. Einen Wendepunkt in dieser Ansicht stellte jedoch das öffentliche Bekanntwerden der Shoah dar, die sie davon überzeugte, dass sie niemals wieder nach Deutschland zurückgehen könne. Sie schließt damit, dass Deutschland „zu sehr“ ihre Heimat gewesen sei und England daher, trotz all seiner Vorzüge, nicht ihr Land sei.
Mit Blick auf die Shoah lehnt auch Adolph Lowe eine Rückkehr nach Deutschland ab. Vor 1945 sei er keineswegs rein negativ gegenüber einem künftigen Deutschland eingestellt gewesen, aber nach dem Krieg sei ein „traumatisches Ereignis eingetreten“: Die Berichte über das, „was sich in den Lagern abspielte“, und als die volle Wahrheit enthüllt wurde, habe er „zunächst nichts mehr mit Deutschland zu tun haben“ wollen. Entsprechend deutlich formuliert er seine Skepsis gegenüber der Stabilität der bundesrepublikanischen Demokratie: Ohne eine schwere Krise sei diese nicht geprüft worden, und er bezweifelte, dass sie einer ernsthaften Belastungsprobe nach lediglich 30 Jahren nach der vollständigen Zerstörung würde standhalten können. Lowe befürchtete, dass „die Tragik der deutschen Geschichte noch nicht zu Ende“ sei. Diese Befürchtung hat sich bis heute glücklicherweise nicht bestätigt.
Marie Jahoda beschreibt ihre Ankunft im Ausland als gleichzeitig schrecklich und großartig, da sie nun einerseits in Sicherheit gewesen ist, aber andererseits auch alles in Wien zurückgelassen habe. Wenn sie später nach Österreich oder in die BRD zurückgekehrt ist, habe sie immer ein beklommenes Gefühl gehabt, da sie sich bei den Leuten fragen musste: „Was hat der gemacht?“ Das Exil habe sie außerdem entwurzelt, es sei „kein nationales Gefühl geblieben.“

Zusammenfassend sind sich die Exilant*innen einig, dass das Exil ihre jeweilige Identität und Haltungen prägte und veränderte. Sie alle fühlten sich als transnationale Botschafter, die der nationalen Identität als „Deutsche“, respektive „Österreicherin“, entwachsen waren und durch die Emigration eine größere Perspektive einnehmen konnten, die sie aus der Provinzialität führte und stattdessen in die Welt hinaus. Sie identifizierten sich nun als Europäer*innen oder definierten sich nach der Verfolgung umso stärker mit dem Judentum, das ihnen eine Internationalität offerierte, wie es keine Nation könnte. Deutschland hingegen betrachteten sie kritisch, aber auch als Heimat, die ihnen genommen worden sei. Ihren Aufnahmeländern sind sie dankbar, aber die Kultur sei ihnen stets fremd geblieben.

by Chris Buchholz