Vom transnationalen Phänomen zur nationalen Angelegenheit. Das Reichsgesetz über die Auswanderung (1897) – Anna Breidenbach

Herzlich willkommen zur Präsentation des Summer School Projekts von Anna Victoria Breidenbach, das sich mit einer historischen Fragestellung nach juristischen Bedingungen von Auswanderung beschäftigt. Im Rahmen der Präsentation wird einerseits das Reichsgesetz über die Auswanderung von 1897 in den Kontext seiner Entstehung und damit auch der gesetzgeberischen Motivation eingebettet, andererseits werden anhand eines Beispiels die Probleme aufgezeigt, die der Versuch einer gesetzlichen Rahmung von Auswanderung mit sich bringt.

Die Präsentation gliedert sich in 3 Videos, die als einzelne Abschnitte auf einander aufbauen. In einem ersten Teil werden einige einführende Vorüberlegungen mit einer Schilderung des persönlichen Zugangs zur Thematik ergänzt. In diesem Zuge wird auch die Besonderheit von Hamburg als Ort für die Recherche zur Auswanderung hervorgehoben.

Der zweite Teil gibt einen Überblick über die historischen Bedingungen, unter denen Auswanderung aus dem deutschen Kaiserreich, und speziell über Hamburg als bedeutendem Ort des Transits, geschehen ist. In diesem Zuge werden auch die Bestimmungen des Reichsauswanderungsgesetzes geschildert.

Im dritten Teil wird die gesetzgeberische Motivation hinter dem Reichsauswanderungsgesetz noch einmal stärker diskutiert. In diesem Zuge gibt die Kritik des Hamburger Vereins der Reeder zeitgenössische Auskunft. Im Anschluss wird die Anwendung des Gesetzes in einem konkreten Fallbeispiel von 1913 geschildert, der in verschiedenen zeitgenössischen Zeitungsberichten thematisiert wurde.

Überleitung

Die Hamburger Nachrichten vom 10. April 1891 fassen die Motivation hinter dem Reichsgesetz über die Auswanderung folgendermaßen zusammen:

Es soll „verhindern, dass die wirthschatliche Schwäche des Auswanderers von den Personen, mit welchen er in Rechtsbeziehungen zu treten gezwungen ist, in verderblicher Weise ausgenutzt werden.“

In der Zeitung wird die Botschaft formuliert, dass das Gesetz zum Schutz der Auswanderer erlassen worden sei. 

In Hamburg war jedoch bereits 1887 ein Gesetz betreffend des Auswanderungswesens erlassen worden, in dessen Verordnungen detailgenaue Instruktionen über die Auswanderungsbedingungen erlassen worden waren. Dies geschah 10 Jahre vor dem Erlass des Reichsgesetzes.

Es stellt sich also die Frage, warum erst so spät ein einheitliches Gesetz über die Auswanderung erlassen worden ist – der Schutz der Auswanderer kann nicht die primäre Motivation gewesen sein.

Sebastian Conrad betont in seiner Monografie eine andere Motivation des Gesetzgebers – die „Notwendigkeit, die nun einmal bestehende Emigration in Gebiete abzulenken, die unter Reichskontrolle standen.“ (Globalisierung und Nation im Deutschen Kaiserreich, München 2006, S. 233)

Inwiefern kolonialpolitisches Interesse mit in die Gesetzgebung 1897 hineinspielten, wird im folgenden Teil der Präsentation aufgearbeitet. Dazu wird die Kritik der Hamburger Rheeder am Gesetz im März 1897 thematisiert, und auf die Anwendung des Gesetzes in einem Fallbeispiel von 1913 eingegangen.

Video 3

Schluss

Eine Auswanderungsgesetzgebung macht eine transnationale Bewegung zur nationalen Angelegenheit – so auch im Falle des Reichsgesetzes über die Auswanderung von 1897.

Den positiven Bestimmungen des Gesetzes zum Schutz der Auswanderer stehen die negativen Kontrollfunktionen des Gesetzes gegenüber.

Das Gesetz zielt ganz besonders auf die Dominanz des mittellosen Auswanderers ab. „Auswanderer“ im Sinne des Gesetzes ist nur derjenige, der nicht über die wirtschaftlichen Mittel verfügt, sich unabhängig von festgesetzten Beförderungsverträgen zu bewegen.

Die Auswanderung wird dadurch zu einem Phänomen, das durch die Gesetzgebung über die Mittellosigkeit der Auswanderer zu definieren ist. Die Gesetzgebung bewirkt eine Formung und Abgrenzung dieser sozialen Gruppe. Der mittellose Auswanderer im Kaiserreich wird zum politischen Subjekt, das von anderen mobilen Subjekten abgegrenzt wird, und durch gesetzliche Bestimmungen kontrollierbar werden soll.

Diese Zielsetzung lässt sich jedoch praktisch nicht einfach umsetzen. Einerseits lassen sich die verschiedenen Formen der Mobilität im Kaiserreich praktisch nicht leicht voneinander abgrenzen. Andererseits ist es nicht möglich, Auswanderer festzusetzen – die mittellosen Auswanderer fallen den Behörden zur Last. So scheitert 1913 der Versuch, die transnationale Migrationsbewegung der mittellosen deutschen Auswanderer im Kaiserreich nationalpolitisch zu lenken.   

Quellen und Literatur

Bildquellen

Karte des Deutschen Reiches 1871-1918, in: Puzger – Historische Weltatlas 98. Auflage 1965.

Foto Adolph Woermann, in: Rudolf Dührkoop – Hamburger Männer und Frauen Anfang des XX Jahrhunderts, Hamburg 1905.

Die Fotos der Archivbestände sowie der Gebäude der BallinStadt sind bei einem Besuch in Hamburg vom 30.09. – 2.10.2020 entstanden.

Textquellen

Art. „Das Reichsgesetz über die Auswanderung“, in: Hamburger Nachrichten 7, Hamburg 6.1.1903.

Art: „Der Rücktransport der Auswanderer. Was die Auskunftsstelle für Auswanderer sagt“, in: Abendausgabe des Berliner Tageblattes 512, Berlin 8.10.1913. 

Art. „Zur Berliner Auswandereraffäre“, in: Hamburger Echo 238, Hamburg 10.10.1913.

Art. „Zurückgehaltene Auswanderer“, in: Berliner Neueste Nachrichten 570, Berlin 7.10.1913.

Art. „Zurückgehaltene Auswanderer. (Ein unhaltbarer Paragraph), in: Hamburger Neueste Nachrichten 238, Hamburg 10.10.1913.

Der Vorstand des Vereins Hamburger Rheeder, unterzeichnet von Adolph Woermann, Vorsitzender: An den Hohen Reichstag zu Berlin. Entwurf eines Gesetzes über das Auswanderungswessen, Hamburg im März 1897.

Gesetz über das Auswanderungswesen, Nr. 26 in: Deutsches Reichsgesetzblatt 1897. Enthält die Gesetze, Verordnungen u. s. w. vom 4. Januar bis 23. Dezember 1897, nebst einem allerhöchsten Erlass und 7 Verträgen aus dem Jahr 1896. (Von Nr. 2353 bis einschl. Nr. 2437), Nr. 1 – 54, Berlin 1897.

Vorschlag zur Definition des Begriffes „Auswanderer“, Einem Hohen Senat der Freien und Hansestadt Hamburg, Hamburg-Paketfahrt Aktiengesellschaft, gezeichnet Ballin, Deutsche Ost-Afrika Linie, gez. Woermann, Hamburg Südamerikanische Dampfschiffsgesellschaft, gezeichnet Adolf Bernitt, undatiert i.J. 1897. 

Literatur

BallinStadt Hamburg: Das Auswanderermuseum Ballinstadt, Hamburg 2007.

Bickelmann, Hartmut/ Bretting, Agnes: Auswanderungsagenturen und Auswanderungsvereine im 19 und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1991.

Conrad, Sebastian: Globalisierung und Nation im Deutschen Kaiserreich, München 2006.

Groppe, Hans-Hermann/ Wöst, Ursula: Über Hamburg in die Welt. Hamburg 2007.

Gassert, Philipp: Transnationale Geschichte,Version: 2.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 29.10.2012, URL: http://docupedia.de/zg/gassert_transnationale_geschichte_v2_de_2012 (01.10.2020).

Hoerder, Dirk (Hg. U.a.): Aufbruch in die Fremde. Europäische Auswanderung nach Übersee, Bremen 1992.

Scheibe, Heinz-Jürgen: Der Einfluss transnationaler Reedereien auf die Struktur der internationalen Linienschifffahrt, Bremen 1981.

Schiller, Nina Glick/Basch Linda/Blanc-Szanton, Cristina (Hg.): Towards a Transnational Perspective on Migration. Race, Class, Ethnicity, and Nationalism Reconsidered (Annals oft he New York Academy of Sciences 645), New York 1992.  

Thies, Karl: Deutsche Schifffahrt und Schifffahrtspolitik der Gegenwart, Leipzig 1907. 

Wiborg, Susanne/Klaus: 1847–1997. Unser Feld ist die Welt – 150 Jahre Hapag-Lloyd. Festschrift herausgegeben von der Hapag-Lloyd AG, Hamburg 1997.